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07/2013
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Das Kinderheim in Rothenburg/S. Quellen: - Der Saalkreis, o.O., o.J. (Merseburg 1932) ; - Stümer, R., Mein Leben – im Strom der Zeit, Eutin 1999. (unveröffentlichte Erinnerungen).
Die wechselvolle Geschichte des Rothenburger Kinderheims ist eng mit der Industriegeschichte des Ortes und des Saalkreises verbunden. Sie begann 1913 nach dem Tod von Amalie Martini, der sehr vermögenden Witwe des Gründers der Prinz Carlshütte Julius Martini (s. Rothenburger Geschichten Nr. 24, Dez. 2012). Frau Martini hatte der Gemeinde Rothenburg ihr 1909 erbautes Haus in der Bruckschen Straße (heute Friedensstr.) mit Grundstück, Nebengelass und großem parkähnlichen Garten vererbt mit dem Vermächtnis, dort ein Kinderheim zu errichten. Während des Ersten Weltkrieges wurden in diesem Haus Kinder, deren Väter eingezogen und deren Mütter in der Rüstungsproduktion tätig waren (s. Rothenburger Geschichten Nr. 21, Juni 2012), tagsüber betreut. Nach Kriegsende und mit Gründung der Weimarer Republik war die Kinder- und Jugendfürsorge in staatliche Hände überantwortet worden, was im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1922 Ausdruck fand und demzufolge im Saalkreis 1924 erstmalig ein Jugendamt gebildet wurde. Dieses war besonders mit Nachkriegsproblemen konfrontiert, die in Industriegemeinden wie Rothenburg/S. akut hervortraten und durch die einsetzende Wirtschaftskrise verschärft wurden. 1921 hatte die Saalkreisverwaltung das Kinderheim in Rothenburg/S. übernommen, zumal die dortige Gemeinde kein Interesse zeigte. Aufnahme im Heim fanden Waisenkinder im Alter zwischen 1 und 14 Jahren, Kinder aus schwierigen Verhältnissen einschließlich schwer erziehbare, aber auch ‚Erholungskinder‘ aus kinderreichen Familien, deren Väter langzeitig erwerbslos waren und Wohlfahrtsunterstützung bezogen. Da sich das Gebäude bald als unzureichend erwiesen hatte, wurde es 1927 abgerissen, neu errichtet und 1928 eingeweiht. Kinderheim - Einweihung 1928 Einrichtung und Ausstattung waren entsprechend den Erfordernissen der damaligen Zeit in hohem Maße modern und zweckmäßig. Fließend Wasser und Zentralheizung waren selbstverständlich; eingebauter Speisenaufzug, Einbauschränke u.a. erleichterten die Arbeit. Im Kellergeschoss befanden sich Küche, Vorratsräume, Heizung, Schuhkammer, Bade- und Duschraum; im Erdgeschoss gab es Spiel- und Speisezimmer, Büro, Wäschekammer und Besucherraum; im ersten Stock waren Schlafräume, Verbands- und Waschraum sowie ein Wohnzimmer. Im zweiten Stock befanden sich Personal- und Isolierzimmer und ein Raum für medizinische Bäder. Unterm Dach lag der Trockenboden. Die Räume waren in lichten Tönen gehalten, vielfach künstlerisch wandbemalt und mit farblich abgestimmten Möbeln bestückt. Das Heim verfügte über 35 Betten. Regelmäßig wurden dort auch junge Mädchen in Hauswirtschaft ausgebildet. Nach 1945 änderte sich zunächst die Kernaufgabe des Rothenburger Kinderheims. Es wurde Arztpraxis, dann ab 1948/49 Tbc-Krankenhaus (Kinder- und Männerstation). Die Betreuung in der Lungenheilstätte lag in den Händen evangelischer Schwestern. Sie waren von den Evangelischen Diakonissenanstalten Halle/S. (gegr. 1857) bzw. Stendal nach Rothenburg/S. beordert worden. Ältere Rothenburger werden sich vielleicht an Namen wie Schwester Meta, Hildegard, Gertraude oder Ruth erinnern. Ende der 50er Jahre entstand aus der Lungenheilstätte ein Tbc-Kindergenesungsheim. Die Betreuung der 30 bis 40 erholungsbedürftigen Kinder im Alter von 1 bis 14 Jahren, deren Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht selbst kümmern konnten, erfolgte nunmehr durch ca. 15 staatlich bestallte Krankenschwestern und Hilfsschwestern. Eine Erzieherin war gesondert verantwortlich für die Betreuung schulpflichtiger Kinder. Insgesamt waren 20 bis 25 Personen im Heim beschäftigt. 1965 endete die Geschichte des Rothenburger Kinderheims. Es folgte der Ausbau zum Ambulatorium des staatlichen Gesundheitswesens im Ort. Ab 1985 firmierte es in gleicher Funktion als Betriebsambulatorium des Draht- und Seilwerkes. Bis zum Umbruch 1990 erfuhren die Einwohner hier eine umfassende medizinische Betreuung durch ansässige praktische Ärzte und Zahnarzt sowie durch regelmäßige Sprechstunden ambulanter Fachärzte und Kinderfürsorge. Stationiert waren Physiotherapie, Apotheke und Sauna. Untergebracht im Ambulatorium waren auch die Gemeindeschwester sowie die Schwestern des ständigen Unfalldienstes des‘ Werkes‘. Verblieben bis 2004 noch niedergelassene praktische Ärztin und Zahnarzt im Gebäude, steht dieses seitdem leer und ist dem Verfall preisgegeben. Diese traurige Tatsache erschütterte Ruth Stümer (geb. 22.05.1924), die von 1951 bis 1953 als Diakonissenschwester Ruth in der Rothenburger Lungenheilstätte gearbeitet hatte. Sie kam nach 60 Jahren, 2011, zum ersten mal wieder nach Rothenburg/S. und konnte in Begleitung von Dagmar Hartmann, damals noch Angestellte des Bürgermeisteramtes, ihre ehemalige Wirkungsstätte besuchen.
Schwester Ruth mit ihren Kindern (1952) Schwester Ruth 2011