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03/2014
Erlebnisse einer Evakuierten Ende des II. Weltkrieges in Rothenburg
Quelle: Marlene Houben, Kriegsgeschehen 1944 – 1945, Heinsberg 2011 3. Auflage.
Die Autorin hat freundlicherweise der Übernahme von Texten aus ihrem Buch zur Veröffentlichung in den
„Rothenburger Geschichte(n)“ zugestimmt.
F O R T S E T Z U N G
Von der Schleuse führte ein Weg zur Schlackenhalde. Das große Gebäude auf der Höhe, welches bewohnt war, war
vom Tal aus nicht zu übersehen.
Zechenhaus im Winter 1945, Wohnhaus der Fam.
Marlene Houben 1991
Mohr und Kurz
Meine
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wohnten
in
der
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illa
des
Werkdirektors
Hilbert
(grünes
Haus)
.
Die
Haustür
erreichte
man
über
mehrere
breite
Stufen.
Da
mein
Onkel
mit
neun
Monaten
Kinderlähmung
bekommen
hatte
und
er
dadurch
sehr
gehbehindert
war,
musste
er
immer
die
Stufen
hinaufgetragen
werden.
Er
fand
stets
gute
und
treue
Helfer.
Onkel
Will
war
ein
lebenslustiger
Mann.
Abends
saß
er
auf
den
Stufen,
und
es
gesellten
sich
viele
zu
ihm.
Es
wurde
gesungen,
und
Onkel
Will
betätigte
sich
in
der
Kunst
des
Hellsehens.
Das
hatte
ihm
eine
Zigeunerin
beigebracht,
die
Mitleid
mit
ihm
hatte.
Zigaretten
wie
auch
ein
gutes
Tröpfchen
hatte
er
immer
zur
Hand.
Manches
Geldstück
steckte
man
in
seine
Tasche,
somit
empfand
er
keine
rechte
Not.
Befand
sich
ein
Landsmann
auf
Urlaub
im
Ort,
trug
er
Onkel
Will
auf
dem
Rücken
–
so
quasi
huckepack
–
in
die
„Gaststätte
zur
Post“
(Ecke
Wettiner
Straße).
Unsere
Mutter
ging
des
Öfteren
mit
uns
auf
den
Burgberg
hinauf.
Eine
Burg
war
leider
nicht
mehr
vorhanden.
Eine
Schifffahrtssäule
wurde
einst
dort
errichtet.
Auf
dem
Burgberg
befestigte
Mutter
zwischen
zwei
Bäumen
eine
Decke,
und
so
war
schnell
eine
Hängematte
zum
Schaukeln
fertig.
Das
gefiel
uns,
und
wir
sangen
das
uns
mittlerweile
schon
bekannte
Lied
„An
der
Saale
hellem
Strande“.
Dieses
Lied
klingt
bis
heute
in
mir
nach.
Neben
unserem
Haus
in
Rothenburg
befand
sich
längs
der
Hofseite
ein
Saal.
Nachdem
die
Franzosen,
die
sogar
Frösche
verspeisten,
abgezogen
waren,
belegte
man
den
Saal
mit
Gefangenen
in
grau-weiß
gestreiften
Anzügen.
Man
nannte
sie
E-Männer.
Sie
waren
zu
Zwangsarbeit
verpflichtet.
We
nn
die
Kolonne
von
der
Arbeit
zurückkehrte,
konnten
wir
beobachten,
wie
sich
einige
Gefangene
heimlich
bückten
und
die
von
uns
aus
dem
Giebelfenster
hinunter
geworfenen
Möhren
usw.
aufnahmen.
Es
gab
dankbare
Blicke.
Wa
s
man
nicht
wusste,
jedoch
heute
weiß,
dass
es
ein
Außenlager
vom
KZ
Buchenwald
w
a
r.
Grausam,
dies
unwissentlich
in
unmittelbarer
Nähe
zu
haben.
Die
Fenster
zum
Hof
wurden
aus
diesem
Grund
zugemauert.
Die Front rückte nun auch hier immer näher. Man hörte immer deutlicher das Böllern der Flak, doch es war
noch auf der anderen Seite der Saale. Plötzlich legte man Schlauchbrücken über den Fluss. Am 14. April
1945 ging der Befehl an uns, den Keller des gegenüber liegenden Hauses, wo unsere
Verwandten wohnten,
aufzusuchen. Alle Kinder kamen in den Vorraum, und man gab uns weiße
Handtücher. Da man glaubte, dass
der Feind eventuell mit Kindern mehr Mitleid hätte, sollten wir uns sofort ergeben und die Tücher schwenken.
Plötzlich ging die Kellertür auf. Soldaten wie Hünen schritten herunter. Sie waren sehr freundlich und gut zu
uns und verteilten sofort Schokolade und Kaugummi. Beides war mir bis dahin fremd. Wir durften dann in
unsere Wohnung zurück. Zu unserem Erstaunen lag dort ein Amerikaner mit den Stiefeln auf unserem Bett
und schnarchte in Frieden. Da meine Mutter eine sehr couragierte Frau war, zog sie die Beine des
Amerikaners bis über den Bettrand. Er aber blieb friedlich und schlief noch eine Weile weiter.
In Rothenburg erkrankte mein Bruder Leo im Juli an Paratyphus. Der Arzt meinte, wir müssen ihm
geriebene
Äpfel geben. Frau K. von der gegenüber liegenden Flurseite brachte uns dann ihre letzten Äpfel. Als Dank
schickten wir ihr später aus der Heimat, nachdem sie selbst schwer erkrankt war, Medikamente.“
Soweit die persönlichen Erinnerungen von Marlene Houben.
Familie
Houben
hatte
in
Heinsberg
vor
dem
Krieg
einen
Friseurladen
betrieben.
Deshalb
konnte
sich
Frau
Houben
während
ihrer
Zeit
in
Rothenburg
als
Aushilfe
beim
hiesigen
Friseur
Hubert
etwas
Geld
verdienen
und
einige
Sachen
anschaffen.
Diese
musste
die
Familie
bei
einem
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rsu
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h,
im
Juli
1945
illegal
über
die
Grenze
in
Richtung
Heimat
zu
kommen,
in
Rothenburg
zurücklassen.
Der
Fluchtversuch
scheiterte,
und
sie
mussten
nach
Rothenburg
zurück.
Bei
einem
zweiten
V
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c
h
im
Oktober
gelang
der
Plan.
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r
Houben
hat
die
Familie
nie
wieder
etwas
gehört.
Ihr
wurde
am
7.
November
1967
die
Nachricht
zugestellt,
dass
er
im
März
1946
in
einem
russischen
Gefangenenlager
südlich
von
Moskau
verstorben
sei.
Nach
der
Wiedervereinigung
Deutschlands
besuchte
Marlene
Houben
1990,
1999
und
2004
nochmals
Rothenburg.
Als
sie
2011
das
Bild
vom
Abriss
des
Zechenhauses
sah,
überkam
sie
eine
große
We
h
mut
.
Denn
-
genau
an
dieser
Stelle
verbrachte
sie
als
Neunjährige
die
letzten
Tage
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Rot
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Zechenhaus 1996
Impressum: 500 Jahre Industriegeschichte Rothenburg a.d. Saale e.V. , Am Kindergarten 11, 06193 Stadt Wettin-Löbejün OT Rothenburg,
Verantw. Ausgabe Nr. 29: P. Stuffrein